LEBEN RETTEN IST KEIN VERBRECHEN! Rede von Dr. Michael Wilk
Demonstration „Leben retten ist kein Verbrechen“ am 21.7.2018 in Stuttgart
Es wird getrommelt und zum Kampf gerufen – für Heimat, Nation, die Wertegemeinschaft des christlichen Abendlandes. All dies sei bedroht und gälte es zu verteidigen. Die Mischung derer, die kämpferisch unter völkisch-nationaler Flagge unterwegs sind, beschränkt sich dabei nicht nur auf AfD, die Identitäre Bewegung oder plump faschistische Hitler-Fans, sondern reicht – und genau das macht es über die Maßen brisant – bis in die Regierung und die Altparteien.
Eine der politisch-strategischen Reaktionen der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD auf den Wahlerfolg der AfD 2017 beinhaltete u.a. die Berufung Horst Seehofers (CSU) zu Innen-, Heimat- und Bauminister. Zeitgleich erfolgte in Bayern Söders Kruzifix-Erlass, der das Aufhängen von christlichen Kreuzen in bayrischen Behörden vorschreibt. Heimatministerium und Zwangschristianisierung könnten, so es denn dabei bliebe, amüsiert als pittoresk erscheinende Posse zur Kenntnis genommen werden. (Die in Wahlkampfzeiten verordnete Zwangsaufhängung Jesu spricht nicht nur der Idee eines laizistischen Gemeinwesens Hohn, sondern ist so schräg, dass sich selbst Vertreter der katholischen Kirche genötigt sehen, Kritik an der Funktionalisierung des Herrn zu äußern).
Doch es geht um mehr. Zu Tage tritt die Absicht, verlorene Stimmen unter dem Einsatz völkischer und nationaler Parolen zurückzuerobern. Dies beschränkt sich jedoch nicht nur auf die propagandistisch-plakative Ebene. Um der AfD den rassistischen Wind aus den Segeln zu nehmen, folgen Taten: Während Kreuze und Heimatministerium die Agitprop-Ebene bedienen, sind Ankerzentren als Internierungslager für Asylsuchende oder Zurückweisungen an der deutschen Grenze menschenfeindliche Maßnahmen, die sich direkt gegen Geflohene richten. Es offenbar sich eine Strategie, die auf Machterhalt abzielt und keinerlei Skrupel hat, sich in letzter Konsequenz auch rassistischer Herrschaftsinstrumente zu bedienen.
Der Giftschrank vormals tabuisierter Begriffe aus dem Fundus nationalsozialistischer Propaganda steht inzwischen weit offen: Die Begriffe Heimat, Volk, Nation und der Kampf zur Verteidigung christlicher Werte gehören längst zum populistischen Repertoire etablierter Parteien. Doch es zeigt sich auch die dazugehörige xenophobe Praxis. Machtstrategische Prämissen legitimieren dabei staatliche-rassistische Entscheidungen: Im Bemühen, die Verteidigung der „deutsch-abendländischen“ Kultur nicht der AfD zu überlassen, werden Geflohene abgewiesen, Todesgefahren ausgesetzt oder der Versklavung in libyschen Lagern überantwortet.
Was wir erleben, ist eine barbarische Verrohung, ein skrupelloses Über-Bord-Werfen jedweder humanitärer Ansprüche. Was sich im Mittelmeer und an den Außengrenzen Europas offenbart, ist ein politisches Kalkül, das über Leichen geht. „Terror“ ist definiert als Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen zur Erreichung politischer Ziele – wir erleben zur Zeit genau das: Staatlichen Terror als Abschreckung und Einschüchterung gegenüber Geflohenen. In der Durchsetzung dieser Maßnahmen offenbart sich nicht nur ein Zurückweichen vor dem rechts-populistischen Druck von AfD und Co., sondern – und das ist das Perfide – ein Aufgreifen und Reproduzieren rassistischer Muster.
In einzigartigen Hetzkampagnen, bezogen auf die Nachkriegsgeschichte Deutschlands, werden Menschen, meist mit wenig mehr auf dem Leib aus den Kampfzonen Syriens oder auch den Hungerregionen Afrikas und unter Einsatz ihres Lebens über das Mittelmeer kommend, zu einer Bedrohung des Abendlandes und zu potenziellen Vergewaltigern deutscher Frauen aufgebaut.
Es werden Ängste und Sorgen aufgegriffen und nach rassistischen Mustern potenziert, die nicht selten ihren Ursprung weniger in fiktiver Angst vor Fremden, sondern in ganz realen gesellschaftlichen Problemen haben. Billiglöhne, Altersarmut, Gentrifizierung, ein sich rasant verknappender und verteuernder Wohnungsmarkt, um nur Einige zu nennen, verschwinden hinter einer rassistischen Drohkulisse. Reale gesellschaftliche Auseinandersetzung an diesen Themen gilt es zu vermeiden, was jedoch angeboten wird, sind völkisch-nationale Scheinlösungen.
Es gibt kein Flüchtlingsproblem – sondern vielmehr ein Rassismusproblem!
Aufwertung durch nationalistisches „Wir“-Gefühl wirkt stabilisierend, erzeugt fiktive Einbindung, ist aufbauend für ein schwaches, in seiner Befindlichkeit bedrohtes Ich. Besser Teil des deutschen Volkes, als ohne Perspektive und ganz allein am Arsch. Gründe, in die wohlfeile völkisch-nationale deutsche Befindlichkeit zu driften, hat offensichtlich nur der klassische Nazi, der sich besser fühlt indem er sich als Mitglied einer „überlegenen Rasse“ definiert. Die Stabilisierung eines angeschlagenen Selbstwerts unter Bemühung nationaler Zugehörigkeitsgefühle ist längst zum Massenphänomen geworden. Eine rassistische, rechts-populistische Dynamik entfaltet sich in der Mobilisierung von Ängsten einerseits und dem Angebot einer identitären Mental-Droge andererseits: Die Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft als Wert an sich – selbstredend exlusiv für „Bio“-Deutsche. Die durchschaubare Absicht, sich selbst durch „Deutschsein“ aufzuwerten und Überlegenheitsgefühle zu wecken, ist angesichts der deutschen Historie geradezu bizarr, ekelhaft und verwerflich genug. Sie wird jedoch erst richtig brisant durch die damit zwangsläufig verbundene Abwertung Anderer, eben Nicht-Deutscher.
Die Ankoppelung der eigenen Wertigkeit ans Vaterland ist, bei aller Absurdität, nie harmlos. Sie ist vielmehr ein gefährliches Element in der selbstüberhöhenden Psychodynamik des Chauvinismus, die das Ich zum national-völkischen Wir transformiert. Einmal angekommen im Kollektiv der „Wir sind das Volk“-Schreier, wird barbarisches Handeln leichter möglich: Das chauvinistische „Wir“-Empfinden stärkt und legitimiert die Unterscheidung in Wert und Unwert, in Drinnen und Draußen. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob mehr das Abendländisch-Europäische statt des Deutschnationalen als Diskriminierungschiffre dient.
Nicht nur Fremde und Geflohene werden zu Opfern dieser Abwehrreaktion, immer offener und häufiger zeigen sich jene üblen Reaktionen auf Andere, die als Minderheiten zu Störenfrieden der „gesunden“ sozialen Gemeinschaft erklärt werden. Sozialhilfeempfangende, Homosexuelle, Wohnungslose, aber auch Menschen mit Behinderung werden nicht mehr als Wesen wahrgenommen, denen tunlichst solidarisch zu begegnen ist, sondern sie dienen zunehmend als Ventil der Wut für Diejenigen, die nicht gelernt haben, sich emanzipativ gegen die eigentlichen Ursachen der gesellschaftlichen Misere zu stellen.
Es dominiert das Gefühl, im Verteilungskampf auf der Strecke zu bleiben, um verknappende Ressourcen kämpfen zu müssen, zu verteidigen, was noch bleibt, gegen die, die anders erscheinen, oder die noch viel weniger haben und gerade deshalb als Bedrohung empfunden werden. Dies ermöglicht der tief verankerte Reflex einer Ellenbogengesellschaft, die Solidarität zum Unwort erklärt und den Blick auf die eigentlichen Verhältnisse trübt: Dass es mehr als genug für Alle gäbe, wäre es nur anders verteilt.
Zunehmende Enthemmung und steigender Alltagsrassismus reichen in Denk- und Handlungsreflexen längst bis in alle Bereiche der Gesellschaft, und das mit steigender Tendenz. Diskriminierende Botschaften, rassistische Impulse, chauvinistische Interpretationen, Lügen werden aufgegriffen, tausendfach verstärkt und verbreitet. Die beteiligten „ganz normalen“ Menschen sind weniger Opfer im Sinne einer Verblendung, sondern ebenso Agierende eines massenpsychologischen Prozesses, in dem Rassismen, „alternative Fakten“ und Verschwörungstheorien sozial vernetzte, gefährliche Dynamik entfalten.
Rassistisches Regierungshandeln in Deutschland, Europa und weltweit ist eng an diese chauvinistisch-populistische Dynamik geknüpft, benutzt und verstärkt sie.
Zeitgleich eskalieren Konflikte, die zum größten Teil Folgen internationaler Ausbeutung, imperialer und postkolonialer Politik sind. Millionen Menschen werden durch Krieg und Zerstörung, durch Hunger und Elend zur Flucht gezwungen. Tausende sterben auf gefährlichen Fluchtwegen, im Bemühen, sichere Länder zu erreichen. Abgesehen von einer kurzen Phase, in der die Grenzen wenigstens für die offen gehalten wurden, die das Mittelmeer überlebten, wird eine Politik der Abschottung und Ausgrenzung betrieben, die im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht.
Fernab jeder Realität wird zudem unterschieden zwischen jenen, die vor Krieg fliehen, und jenen, die so vermessen sind, den Kampf ums Überleben aus ökonomischen Gründen zu führen. Eine Differenzierung, die an Wirklichkeit und Vielfalt von Fluchtursachen scheitert. Nur menschenverachtender Zynismus und die makabre Unterscheidung zwischen Hunger- und Kriegstod ermöglicht die Definition von „Wirtschaftsflüchtlingen“. Jene Elenden, die sich wagen, etwas einzufordern – etwa schlichtes Überleben, Sicherheit oder ein bescheidenes Stück vom Wohlstand -, werden als Schmarotzer diskriminiert und verbal entmenschlicht. Ihnen wird jeder Zugang nach Europa verwehrt und dazu ist jedes Mittel recht.
Fluchtursachen sind in der Realität vielfältig und kaum voneinander abgrenzbar: Kriege, Menschenrechtsverletzungen, staatliche und vom Staat geduldete Gewalt, Klimaveränderungen, verursacht durch kapitalistische Wachstums-Maxime. Armut, die Menschen zwingt, ihre angestammte Umgebung zu verlassen, der blanke Hunger, ebenso wie ein Bedürfnis nach gesundheitlicher Versorgung, Bildung und einem besseren Leben in Sicherheit. Dazu frauenspezifische Fluchtgründe und Verfolgung aus sexuellen Gründen.
Der Kreis schließt sich: Ökonomische Verwertungsinteressen bestimmen die geopolitische Einflussnahme, der Hunger nach Energie, Öl, Mineralien und das Abstecken von Herrschaftsclaims bestimmen die Politik der Mächtigen. Sei es die Abholzung von Regenwald oder ausbeuterische Produktionsbedingungen in Bangladesch, es zählt die Verwertbarkeit von Mensch und Natur.
Nur wehe, wenn sich die Geschundenen dieser Politik auf den Weg in die Wohlstandszonen dieser Welt machen, dann erscheint es opportun, Kriegsschiffe zur Zerstörung von Schlepperbooten zu entsenden und das Mittelmeer in ein Massengrab zu verwandeln.
Der brutale und zynische Umgang europäischer Staaten mit den Opfern globaler Armut wird uns täglich vor Augen geführt. Selbst für Menschen, die aus sogenannten anerkannten Fluchtursachen ihr Land verlassen, besteht keinerlei legale Möglichkeit, Europa zu erreichen. Die Grenzen der Festung werden mit Flugzeugen und Drohnen überwacht, sind mit Mauern und Stacheldrahtzäunen befestigt. Abschottung, Vertreibung und Abschiebung werden forciert. Mit nationalistischer und rassistischer Propaganda wird gegen Schutzsuchende, Geflüchtete und illegalisierte Menschen auch innerhalb der Staatsgrenzen Stimmung gemacht und diese der Verfolgung durch Staatsorgane ausgeliefert.
Flankiert werden die menschenverachtenden Argumente der Politik immer mit dem Argument und der formulierten Absicht, die Verhältnisse in den Fluchtländern zum Positiven wandeln zu wollen. Ein blanker Zynismus, wenn die reale Politik betrachtet wird. Es wird finanziert, was Geld bringt, was Einflußsphären sichert, was Rohstoffe sichert. Der Export von Waffen geht ungebremst weiter.
Wir erheben heute unsere Stimme gegen diese Zustände. Wir widersprechen gesellschaftlichem Rassismus und staatlicher Skrupellosigkeit. Doch angesichts der Zustände, des tausendfachen Todes, reicht symbolischer und appellativer Protest nicht aus. Die Verhältnisse hier, an den Grenzen Deutschlands und Europas, erfordern Vernetzung und praktische Intervention. Rassismus ist nur zu bekämpfen, indem er als solcher benannt und in seinen Erscheinungsformen angegriffen wird. Herrschaftshandeln, das zunehmend einfachste humanitäre Grundsätze für ungültig erklärt, das Menschen zu Tausenden dem Tod überantwortet, das die Rettung von Schiffbrüchigen kriminalisiert, muss ebenso der Kampf angesagt werden wie einem rassistischen Mob, der sich anschickt, eine Unterkunft von Geflohenen zu stürmen.
dr.m.wilk
Link zum Videomitschnitt: https://youtu.be/Kl-yiv4mXDw