„Eine schwierige Lage bedeutet noch nicht das Ende…“

In Rojava ereignet sich himmelschreiendes Unrecht. Nicht erst seit den erneuten Angriffen der Türkei auf nord-ostsyrisches Gebiet vor nunmehr 15 Tagen wurde  klar, was eine von Erdogan befohlene Invasion als Ziel verfolgt. Schon im Frühjahr 2018 zeigte der Einmarsch in Afrin worum es geht: Die Zerstörung selbstverwalteter Strukturen, der Selbstbestimmung an sich. Eine Macht, die nicht zögert dschihadistisch-islamistische Söldner auf Menschen loszulassen, benutzt Worte wie Frieden und Freiheit im orwellschen Sinne. Die „Operation Friedensquelle“  steht für Vertreibung, Mord und Totschlag, Leichen und Schwerverletzte. Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschenrechte sollen dauerhaft entsorgt werden, ebenso wie die Freiheit des Wortes. 
Der Vertrag zwischen Russland und der Türkei besiegelt diese Absicht, indem er den türkischen Invasoren zwei Städte und ein über hundert Km breites und 30 Km tiefes Gebiet überlässt. Der Verrat Trumps und der Rückzug der USA, öffneten den Raum für die völkerrechtswidrige Invasion und zwangen die Menschen Rojavas ihre selbstverwalteten Gebiete für das Assad-Regime und Russland zu öffnen. 
Eine Dynamik mit Folgen. Hundertausende flohen in Richtung Süden, das Gesundheits- und Versorgungssystem ist regional am Rande des Zusammenbruchs.  
Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG/YPJ  werden sich unter Androhung weiterer Bombardements in unterschiedliche Entfernung zur Grenze zurückziehen, eine Eingliederung der Syrien Democratic Forces SDF in Assads Armee wird diskutiert. 
Ohne Zweifel steht das gesellschaftliche Modell Rojavas auf der Kippe. Und doch, so wird es einem in jedem Gespräch entgegengehalten, „eine schwierige Lage bedeutet noch nicht das Ende.“ Die Menschen sind zum Teil erstaunlich gelassen, die Erfahrung von Rückschlägen und von unmenschlicher Unterdrückung währen schon lange. Die Situation ist durchaus ambivalent, in der Nähe der Kampfzonen müssen Strukturen und ganze Siedlungen aufgegeben werden,  in anderen Regionen Rojavas ist hingegen noch alles unter Kontrolle der Selbstverwaltung. Die Asayesh Polizei kontrolliert an den Checkpoints, die Situation erscheint in der Großstadt Quamishlo ist (von gelegentlichen Attentaten abgesehen) vergleichsweise normal. 
Während Europas Regierungen Lippenbekenntnisse ablegen ohne wirklich Druck auf die Türkei auszuüben- zu groß ist die Angst vor politisch-sozialen Verwerfungen und ökonomischen Einbußen- kämpfen die Menschen Rojavas um das Überleben. Um ihr eigenes substantielles und das der von ihnen geschaffenen sozialen Strukturen. Diese Auseinandersetzung dauert an und ist noch lange nicht zu Ende. „Wir sind Rückschläge gewöhnt und werden es schaffen“, ist die Aussage vieler. 
Die Menschen Rojavas haben Solidarität und Unterstützung verdient.  Es ist nicht unsere Aufgabe zu bestimmen, wann das Modell einer anderen menschlicheren Gesellschaft gescheitert ist oder nicht. 
Solidarität mit #Rojava!

Dr. Michael Wilk, 24.10.2019, Rojava/Nordsyrien

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