2. Bericht aus Rojava/Syrien von Dr. Michael Wilk

Dr. Michael Wilk 14.4.21 Haseke Nord/Ostsyrien #Rojava 


Seit April steigen die Infektions- und Erkrankungsraten rapide. Ich bin in der Corona-Klinik des Kurdischen Roten Halbmonds in Haseke. Die Klinik wurde schon im Laufe des letzten Jahres eingerichtet um der Pandemie begegnen zu können. In der Not wurde eine ehemalige Hühnerfarm gereinigt und umgebaut. Ein Trakt dient zur Aufnahme,  bei positivem PCR Test werden Erkrankte in den anderen verlegt. Von 85 Betten sind zzt. 36 mit schwer erkrankten Patien*innen belegt. Schwestern, Pfleger und Kolleg*innen arbeiten im Schichtsystem rund um die Uhr, wie üblich. Der Bitte den hier tätigen Kolleg*innen beratend zur Seite zu stehen komme ich gerne nach, muss jedoch schnell feststellen, dass die therapeutischen Spielräume völlig ausgereizt sind. Meine jahrelange Intensiv- und notfallmedizinische Erfahrung nutzt nichts, alle arbeiten bereits am Limit der Möglichkeiten. So besteht das therapeutische Spektrum in der Gabe von O2 über Maske, Infusionen, der Verabreichung des Kortikoids Dexamethason und ggf. der Gabe von Antibiotika. Darüber hinaus fehlt es an allem: alle arbeiten notgedrungen unter hohem eigen Risiko mit Op-Masken, FFP2 Masken gibt es genausowenig wie maschinelle Beatmungmöglichkeiten, egal ob invasiv oder nicht. Niemand ist geimpft, die Erkrankungsrate der Mitarbeiter*Innen des kurdischen Halbmonds ist hoch.

Kollege Rewend ist 26 Jahre alt und hier der jüngste Arzt, arbeitet seit Beginn in der Covid-Klinik und berichtet erschüttert über den Kampf gegen Corona mit wenigen Mitteln. Er ist sichtlich mitgenommen. Fünf Tote pro Tag  sind keine Seltenheit. Bei der Visite sehe ich einen Erkrankten mit einer Sättigung von 75 % und einer Atemfrequenz von über 50/min. Eine Intubation wäre machbar, aber letztlich sinnlos, die Möglichkeit einer längeren maschinellen Beatmung fehlt. Der Mann wird vermutlich in den nächsten Stunden sterben, außer auf ein Wunder hoffen kann auch ich nichts tun. Die Mortalität liegt unter diesen Bedingungen bei ca 50%. Auch Imad, der verantwortliche Pfleger und Logistiker den ich schon seit Rakka 2017 kenne,  ist frustriert über die eingeschränkten Möglichkeiten bei gleichzeitig hohem persönlichen Einsatz. Alle hoffen auf die Impfung, wissen jedoch wie vage die Ankündigung der WHO ist. Eine erste Lieferung soll im Mai in Syrien eintreffen, von denen ein Teil in den selbstverwalteten Gebieten Nordostsyrien zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt werden soll. Die Lieferung würde für gerade einmal 2% der Bevölkerung reichen und besonders gefährdete Personen vor Covid schützen. Die Situation wäre nicht auszuhalten, wenn es nicht auch Erfolge gäbe. Am Nachmittag kann eine Patientin nach tagelanger Betreuung geheilt und quicklebendig entlassen werden. Die arabisch stämmige Frau ist 103 Jahre alt. Wir stehen Spalier und applaudieren ihr. Sie lächelt und hebt die Hand zum Gruß.

fb-share-icon